Alle in einem Boot: Rückzug und Ausgrenzung
Eines der finstersten Kapitel der Schweizerischen Eidgenossenschaft waren die Jahre 1930 bis 1945. Von allen Landesteilen kamen mentale und politische Unterstützungen für totalitäre Systeme, für Hitler, Mussolini & Co. Ein kleiner Einblick in die damaligen prominenten Netzwerke genügt nicht. Es fehlen heute Informationen über ein Weiterleben dieses Ungeheuers nach 1945 - eine nachhaltige Bewältigung der Vergangenheit. (Teil 1).
Von Paul Ignaz Vogel
Il Duce Benito Mussolini erhielt in Rom anno 1933 von einer Schweizer Delegation einen Berner Bären, aus Holz geschnitzt. Die Eidgenossen waren angereist, um die Schweizerische Faschistische Bewegung zu gründen. Initiant des Projektes war Arthur Fonjallaz, ein hochrangiger Schweizer Militär.1)
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Arthur Fonjallaz wurde als Sohn einer Waadtländer Weinbauernfamilie in der psychiatrischen Anstalt von Cery bei Prilly geboren, wo seine Mutter krankheitshalber interniert war. Er hatte nach seiner Schulzeit die italienische Militärakademie in Modena besucht. In der Schweiz begann er darauf seine Karriere, die ihn bis zum Oberstbrigadier führte. Von 1931 bis 1933 war er Dozent für Kriegswissenschaften an der ETH Zürich. Von 1927 bis 1932 Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei.
Stets trieb es Fonjallaz nach Rom, denn das hatte finanzielle Gründe. Vom Juni 1931 bis August 1935 wurde er ganze achtzehn Mal vom Duce empfangen und erhielt sogar 1932 vom italienischen Aussenministerium die ansehnliche Gesamtsumme von 2‘260‘000 Lire oder rund 610‘000 Franken. Dies war eine der grössten Subventionen des Duce an eine ausländische faschistische Bewegung. Mit dem Schwung des Zustupfes vom italienischen Diktator lancierte die schweizerische faschistische Bewegung eine Eidgenössische Volksinitiative gegen die Freimaurerei, die vom Volk jedoch 1937 verworfen wurde.1) 2)
Deutscher Doppelagent gegen Frankreich
Nach seiner politischen Eskapade beim Duce wurde Oberstbrigadier Fonjallaz von der Schweizer Armee ausgemustert. Doch wegen seinem Insiderwissen warb der militärische Nachrichtendienst Fonjallaz zu Beginn des Kriegsjahres 1939 an. In den ersten fünf Kriegsmonaten unternahm dieser mehrere Reisen nach Deutschland. Als er am 25. Januar 1940 wiederum ins Reich reisen wollte, verhaftete ihn die Schweizer Spionageabwehr in Schaffhausen.
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Seit Kriegsbeginn, das heisst seit Anfang September 1939 hatte Ex-Oberstbrigadier Fonjallaz ebenfalls militärischen Nachrichtendienst zum Nachteil Frankreichs und politischen Nachrichtendienst für Deutschland betrieben. Seine Informationen wurden durch Mittelsmänner beschafft, die nach Frankreich gereist waren. Und zwar unter Vorspiegelung falscher Tatsachen: Die Nachrichten wären für die Schweiz bestimmt, gab Fonjallaz vor. Der politische Nachrichtendienst bezog sich zum Teil auf Frankreich, zum Teil auf unser Land. In der Schweiz wurden vor allem die englische Presseagentur Exchange Telegraph sowie die polnische Vereinigung Pro Polonia bespitzelt. Die englische Presseagentur interessierte deshalb, weil die Gestapo glaubte, in deren Kreis die Urheber des Münchner Attentats gegen Adolf Hitler ausfindig machen zu können. Im Februar 1941 wurde Fonjallaz wegen Spionage zugunsten von Deutschland zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, aber im April 1943 bereits unter Bedingungen wieder frei gelassen.3)
Henri Guisan, grosser Bewunderer von Benito Mussolini
Es hatte in den Dreissigerjahren vorigen Jahrhunderts auch andere Waadtländer nach Italien gezogen, nämlich einen gewissen Henri Guisan, einen hohen Kadermann der Schweizer Armee, einen Oberstkorpskommandanten.
Und zwar in das Mittelgebirge des nördlichen Apennins, der sich zwischen den Städten Modena, Ravenna, Arezzo und La Spezia erstreckt. Der Duce hatte dort auch eine Vertretung der Schweizer Armee zum Mitverfolgen eines Manövers der italienischen Armee eingeladen. Henri Guisan, der privilegierte Mann aus Lausanne – wo Mussolini seine mühselige Startzeit als Jungsozialist erlitten hatte – folgte dem italienischen Manöver-Geschehen.
Im Bericht aus Lausanne über die italienischen Manöver vom August 1934 an das Eidgenössische Militärdepartement hielt Kommandant Guisan vom 1. Armeekorps der Schweizer Armee am 15. Oktober amtlich fest: «Dem Duce und nicht dem Faschismus verdankt Italien seine vollständige, totale und wunderbare Umwandlung, eine Energie, einen eisernen Willen, der alle Hindernisse überwindet, der Zeit voraus, ohne Erbarmen! Mit ihm sind die aufgehenden Sterne dazu verdammt, sehr bald zu verschwinden... Italien akzeptiert seine Macht, die es jetzt nicht mehr diskutieren kann... Das Verdienst dieses Mannes, dieses Genies, besteht darin, dass es ihm gelungen ist, alle Kräfte der Nation zu disziplinieren, sie zu einem einzigen Strom zu vereinen und diesen Strom ausschließlich für die Größe seines Landes zu nutzen.»
Fast neidisch bekennt Guisan: «Als Mussolini das erste Mal unter seine Offiziere, Generäle und Unterleutnants kam, bewegte er sie offensichtlich alle, einige von ihnen bis zu dem Punkt, an dem sie ihre Fassung verloren. Ein harter Blick des Meisters erschreckte sie, ein Lächeln erfüllte sie mit Freude. Auf dem Land hingegen ist sein Ansehen das eines Halbgottes. Das Volk wartet spontan auf ihn, wohin er auch geht, und wirft sich ihm an den Hals, indem es einfach ruft: Duce! Duce! Duce! Die alten Leute weinen und bekreuzigen sich.»
Und es wird auch indirekt eine hohe Bewunderung gegenüber dem Führer des Dritten Reiches sichtbar: «Mussolini erweckt den Eindruck von absoluter Ehrlichkeit. Bei der Vorstellung gegenüber der Mission der Reichswehr sagte er Generalmajor List zu den Ergebnissen des deutschen Plebiszits über die Zusammenführung des Staatspräsidenten und Reichskanzlers in der Person von Adolf Hitler: "In einer Diktatur hat eine Volksbefragung überhaupt keine Bedeutung"… Abschließend möchten wir sagen, dass wir weder Mussolinis politisches Regime noch seine Armee beneiden, sondern den großen Mann, der über Italiens Schicksal wacht. Das Wunder von Mussolini beweist eindeutig, dass der öffentliche Geist eines Landes weitgehend von der Mentalität derjenigen abhängt, die es regieren.»
Soweit aus dem Bericht des Kommandanten des 1. Armeekorps der Schweizer Armee, von Henri Guisan, über die großen italienischen Manöver im toskanisch-emilianischen Apennin, August 1934.
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Fünf Jahre später wurde Henri Guisan von den eidgenössischen Räten zum Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, zum General in Kriegszeiten gewählt. 4)
Alt Bundespräsident Jean-Marie Musy mit Heinrich Himmler
In Bad Wildbad, nördlicher Schwarzwald, östlich von Baden-Baden steht am Kurplatz 2 das Hotel Post. Ein gediegenes Etablissement. Am 12. Januar 1945 erwartete es höchsten Besuch. Die Stammgäste wurden ausquartiert, Delikatessen für die Hotelküche herangeschafft. Reichsführer-SS Heinrich Himmler war angereist um den früheren Schweizer Bundespräsidenten, den Freiburger katholisch-konservativen Politiker Jean-Marie Musy zu treffen. Vorgesehen war ein Deal um Jüdinnen und Juden gegen Lastwagen und Geldleistungen auszutauschen. 5) Einer offiziellen Biographie des Schweizer Kantons Freiburg ist zu entnehmen: «Diese Aktion, die ihn und hochrangige Nazis reinwaschen soll, ermöglicht die Einreise eines Konvois von 1200 Juden in die Schweiz. Nach Kriegsende gibt Musy jedes politische Engagement auf. Er ist weiterhin in verschiedenen Bankinstituten tätig und begibt sich 1949 in den Irak, um die Finanzen des Königreichs zu sanieren.» 6)
Wer war dieser Jean-Marie Musy? Zusammen mit Franz Riedweg, ebenfalls ein Schweizer Bürger, der als Obersturmbannführer in der SS im Dritten Reich diente, hatte er ab 1937 in München den Propagandafilm «Die rote Pest» produziert. Streiks und soziale Unruhen wurden darin als Folge einer jüdisch-bolschewistischen Welt-Verschwörung dargestellt.7). Er folgte damit einem Trend in seinem katholisch-konservativen Milieu der Dreissigerjahre vorigen Jahrhunderts, sich von der Demokratie abzuwenden und neue politische Organisationen mit Autoritarismus, Ständestaat und Faschismus aufzustellen. Wie viele Rechtsintellektuelle in der Suisse romande tendierte auch er zusehend zu Sympathien für die Achsenmächte, für Deutschland, für Hitlers Dritte Reich. Galt es als angemessen, im Ersten Weltkrieg für Frankreich und die Entente einzutreten, wurde nun die antikommunistisch-hitlerianische deutschfreundliche Politik auch in der Suisse romande zusehends salonfähig.
Jean-Marie Musy brachte es im demokratischen System der schweizerischen Eidgenossenschaft zu Rang und Ehren, wurde Grossrat, Staatsrat des Kantons Freiburg, Nationalrat, Bundesrat, zweimal Bundespräsident, nach seinen Protest-Rücktritt 1934 sodann wieder Nationalrat. Zusehends verstrickte er sich im Aufbau schroff antidemokratischer Kräfte und Organisationen in unserem Land und endete als Freund und Vermittler des Menschheitsverbrechers Heinrich Himmler.8)
De père en fils. Sein Sohn Pierre Musy wurde 1951-1954 schweizerischer Militär- und Luftattaché in Iran, Irak, Syrien und Libanon mit Sitz in Teheran und mutierte zehn Jahre später, im Höhepunkt des Kalten Krieges gegen die UdSSR und ihre Satelliten, 1963 zum schweizerischen Geheimdienstchef. Die antibolschewistische Front blieb in der Familie gewahrt. 9)
Pétainismus und Schoa
In einem Blitzkrieg umging die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Verteidigungsfestung der Maginot-Linie im Osten Frankreichs, fiel in Belgien und in die Niederlande ein und besetzte den Nordosten Frankreichs inklusive die Hauptstadt Paris. Die französische Nationalversammlung wählte den 1.Weltkriegsmarschall Pétain zum Staatsoberhaupt, und dieser ersuchte Deutschland um einen Waffenstillstand. Er wurde auf Befehl Hitlers symbolträchtig im gleichen Wagen der CIWL (Compagnie Internationale des Wagons-Lits) unterzeichnet, in dem sich Deutschland 1918 dem damals siegreichen Frankreich unterwerfen musste.10)
In der Schweiz geriet Henri Guisan in die Bredouille. Als Oberkorpskommandant hatte er ab 1936 mit Frankreich ein Manöver geübt, für den Fall H (Hélvetie). Bei einer Umgehung der Maginotlinie auf der Südfront (Schweiz) durch die deutsche Wehrmacht wäre das 45. französische Armeekorps zur Unterstützung der Schweizer Armee in unser Land eingerückt. Was am 20. Juni 1940 geschah. 45'000 von der Wehrmacht geschlagenen Franzosen fanden in der Schweiz gemäss Haager Landkriegsordnung vorübergehend Zuflucht in unserem Land.
Entsprechende Akten über die geplante französisch-schweizerische Zusammenarbeit im Fall H fanden die Nazis im besetzten Frankreich, hielten sie vorerst unter Verschluss, nutzten sie aber offenbar zur indirekten Druckausübung, unter anderem auch auf Rudolf Minger, den damaligen Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartementes. 11)
Noch in seinem Schreiben zum freiwilligen Rücktritt per Ende 1940 bekannte sich Minger zur Neuordnung von Europa im Sinne von Pétain und Hitler: « Der Ausbruch des europäischen Krieges im Herbst des letzten Jahres und die dadurch geschaffene Unsicherheit für unser Land machten es mir zur Pflicht, einstweilen noch in meinem Amte zu verbleiben. Der Abschluss des Waffenstillstandsvertrages zwischen unsern Nachbarstaaten und die seitherige Entwicklung der internationalen Verhältnisse haben für die Schweiz eine militärische Entspannung gebracht, die es mir erlaubt, auf meinen früheren Entschluss zurückzukommen.» 12)
Damit machte MInger Platz für den rechtskonservativen Bernburger Eduard von Steiger, den bekannten Flüchtlingshäscher. Unter von Steigers Ägide konnte sein Untergebener Heinrich Rothmund die Kollaboration mit Deutschland und die Begünstigung der Schoa fortsetzen. 13) Zur Wahl von Steigers in den Bundesrat hält Wikipedia fest: «Gerüchte über eine deutsche Einflussnahme auf seine Wahl wurden nie bestätigt.» 14)
Unter dem Motto «Arbeit, Familie, Vaterland» kollaborierte Vichy-Frankreich mit dem deutschen Reich. Das System war autoritär-faschistisch (Der Staatsführer) und mörderisch antisemitisch. Erst recht nach dem November 1942, als die Wehrmacht nach Südfrankreich vorgestossen war und auch die sogenannte «Zone libre» besetzte. 15) Es wurde auch im besetzten Frankreich die Verfolgung von Jüdinnen und Juden und die Deportation in die deutschen Vernichtungslager der Schoa organisiert. 16)
Pilet-Golaz und die Antisemit:innen in der Schweizer Wirtschaft
Nach Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten der Achsenmächte am 10. Juni und dem Sieg der deutschen Wehrmacht über Frankreich trat am 25. Juni 1940 das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen in Kraft. Wohl nicht zufällig reiste gleichen Tags eine deutsche Wirtschaftsdelegation nach Bern, zur «Aushandlung» der totalen – und faktisch exklusiven - Zusammenarbeit der schweizerischen Volkswirtschaft mit Reichsdeutschland. 17) Offenbar zur Begrüssung der Erpresser wandte sich Bundespräsident Pilet-Golaz, seit Giuseppe Mottas Tod Vorsteher des Eidgenössischen Departementes für Auswärtiges, gleichentags, um 12:45 via welsches Radio an die Schweizer Bevölkerung mit der Mahnung, die neuen Machtverhältnisse in Europa zu akzeptieren und zu einem «neuen Menschen» zu werden. Bundesrat Philippe Etter übernahm die Ansprache in deutscher Fassung für das deutschschweizer Radio und Enrico Celio tat dasselbe auf Italienisch für das Tessiner Radio. Der Bundespräsident sprach angesichts der wirtschaftlichen Erpressung unseres Landes von «Anpassung an die neuen Verhältnisse, ausserhalb veralteter Formeln». Und weiter: «Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen. Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.» 18) Pilet-Golaz hatte die präsidialen Äusserungen am Abend vor der Ausstrahlung in seiner Wohnung zusammen mit seinen Bundesratskollegen Philipp Etter und Rudolf Minger abgesprochen.19) Aber eine verfassungsmässig korrekte Absprache und Genehmigung hatte im Gesamtbundesrat nicht stattgefunden.
Der präsidiale Ansturm auf die Schweizerischer Bevölkerung war eine Art Putschversuch eines Autoritaristen, der in breiten Kreisen der Schweiz schlecht ankam.
Mit Wohlwollen registrierte hingegen Reichsdeutschland die Aktion von Pilet-Golaz. Am 19. November 1940 schrieb Otto Carl Köcher, Gesandter Reichsdeutschlands in Bern und gern gesehener Gesprächspartner von Bundesrat von Steiger an das Auswärtige Amt in Berlin: "Die breite Masse, die nicht weiter nachdenkt, befürchtet noch heute einen Einmarsch deutscher Truppen, während es den Einsichtigen ganz klar ist, dass eine militärische Besetzung des Landes garnicht [sic] notwendig ist und garkein [sic] Blut zu fliessen braucht, sondern Deutschland, wenn es will, die Schweiz wirtschaftlich abwürgen kann. Der Bundespräsident Pilet-Golaz hat zweifellos diese Einsicht. Er hat auch den besten Willen, das Land anders auszurichten." Köcher meinte zudem: «Die einzigen Bundesräte, die ihm zu folgen vermögen und guten Willens sind, ihn zu unterstützen, sind Wetter, der Finanzminister, und Etter der Innenminister.» 20)
Warum war Bundesrat Ernst Wetter (FDP) in Hitlers Gnaden? Wetter sass im Vorstand des Vororts des Schweizerischen Handels- und Industrievereins und amtierte als Bundesrat sogar als dessen Vizepräsident. In ebendiesem Vorstand sass auch der Glarner Industrielle Caspar Jenny, der am 19. Dezember 1938 gemäss Protokoll meinte: «Hr. Jenny kritisiert im Besonderen das Verhalten einzelner jüdischer Kreise, denen die jüdischen Belange oft wichtiger erscheinen als die schweizerischen Interessen. Vielleicht wird es einmal notwendig werden, unsere Juden mit aller Bestimmtheit darauf aufmerksam zu machen, dass eine Verletzung schweizerischer Interessen nicht hingenommen werden darf.» 21)
Am 9. August 1940 unterzeichnete die Schweizerische Eidgenossenschaft in Berlin Wirtschaftsvereinbarungen, mit denen sich die Schweizer Volkswirtschaft dem Dritten Reich unterwarf. 22) Zum Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins und dessen Sympathien gegenüber dem Dritten Reich sei noch dies angemerkt: Caspar Jenny, ein Vorortsmitglied war auch einer der Erstunterzeichner in der Eingabe der 200 vom 15. November 1940, mit welcher unter Anderem vom Bundesrat die Entfernung demokratisch gesinnter Redaktoren von ihren Zeitungsposten und die Ausweisung des Völkerbundes aus der Schweiz verlangt worden waren. Es war die Rede von «Ausmerzung». 23)
Die Liturgie vom Rütli
Wenige Tage nach dem Kniefall von Pilet-Golaz gegenüber Hitler, am 4. Juli 1940, waren bereits die beiden älteren Heeresklassen Landwehr und Landsturm der Schweizer Armee nach Hause entlassen worden: 300'000 Wehrmänner standen nun wieder für zivile Aufgaben zur Verfügung, während nur 150‘000 Mann des Auszugs weiterhin im Dienst blieben. Das war die bittere Tatsache für die ungeschützte Schweizer Bevölkerung, die nicht nur in den Bergen, sondern auch im Flachland lebte.24)
General Guisan trat die Flucht nach vorne an. Er hatte begriffen, dass in der Führerzeit in der breiten Schweizer Bevölkerung eine Führerpersönlichkeit, eine Art Vaterfigur im Vaterland gut ankommen musste. Und dass nicht alle im Lande den Anschluss an Hitlers Reich suchten. So inszenierte er im Sinne einer grossen PR-Aktion eine Kundgebung des Widerstandswillens, obwohl der Rückzug der Schweizer Armee ins Réduit, die Alpenfestung angesagt war. Er wurde Populist in Uniform.
Eine Art nationale Liturgie in Sonntagsuniform, verbunden mit einer richtigen Botschaft des erwünschten Widerstands, hinter der sich aber eine ganz andere Wahrheit versteckte: Die Armee schaute auf sich allein, rettete sich selbst und zog sich in die Alpen-Festung zurück. Das Rütli wurde am 25. Juli 1940, nur einen Monat nach Pilet-Golaz’ Anpasserrede, mit einem Dampfschiff, der «Stadt Luzern» angefahren. Alle in einem Boot, der Kopf der Schweizer Armee hinunter bis zu den Majoren als treffgünstiges Zielobjekt, das leicht untergehen konnte. Guisan fand die Sicherheitslage im Lande offenbar nicht besonders beeindruckend und bedrohlich, sonst wären die Mannen von der Armee zu Lande, zum Beispiel auf dem Fussweg durch den Wald, und auch etwas konspirativer an den heiligen Ort der Schweizerischen Eidgenossenschaft, zum Rütli angerückt. Und nicht in Sonntagsuniform, sondern in Kampfmontur – oder in Zivil. 25)
Rasch wuchsen nach dem Rütli-Rapport Guisans Sympathien in der Schweizer Bevölkerung. Er hatte es nötig. Ulrich Wille jun., Kommandant des 2. Armeekorps, Schweizer Nazi, 1941-42 Ausbildungschef der Armee, wollte mithilfe der Deutschen den von den eidgenössischen Räten gewählten General Guisan stürzen. Wille jun. hatte Adolf Hitler persönlich kennen gelernt, als dieser 1923 bei ihm Zuhause in Zürich eine riesige Spendenaktion für die NSDAP lanciert hatte 1942 kam es nicht mehr zum Umsturz in der Schweiz. 26) Mag sein, dass dem frankophonen Guisan die offenen Sympathien zum andern Diktator der Achsenmächte, zu Mussolini, geholfen hatten, den gefährlichen Männerintrigen – diesmal der deutschen Nationalsozialisten – im hohen Offizierskorps der Schweizer Armee Stand zu halten.
Was militärisch und staatspolitisch vom Réduitgedanken zu halten war, stellte Bundesrat Karl Kobelt, 1940-1954 amtierender Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartementes anfangs der Fünfzigerjahre vorigen Jahrhunderts - als Guisan längst abgedankt hatte – kompetent fest: «Wir gehen von der Auffassung aus, dass es nicht zu verantworten wäre, wenn die schweizerische Armee sich nur für die Réduitverteidigung vorsehen würde und grosse Gebiete des Landes kampflos von einem Angreifer besetzen liesse.» 27)
Zum Schluss sei noch eine düstere Facette in Guisans Charakterbild erwähnt: Wie die meisten Mächtigen in der damaligen Schweiz war auch Guisan, der Duce-Verehrer, Antisemit. Das kam ganz nebenbei aus, als ein Mitarbeiter des Schweizerischen Bundesarchivs ein belastendes Dokument fand. Der Historiker Professor Georg Kreis (ein Bonjour-Schüler) dazu in vorsichtiger Frageform: «So machte Daniel Bourgeois, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesarchivs, ein Schreiben bekannt, in dem der General am 31. Januar 1941 den Generaladjutanten anfragte, wieviele Juden im Armeewesen beschäftigt seien. Das Dokument warf die Frage auf, wie weit sich Guisan aus Furcht vor «bolschewistischen Umtrieben» vom antisemitischen Zeitgeist hatte anstecken lassen.» Soweit Georg Kreis. 28)
Der Historiker Josef Lang erinnert an General Guisan: «Als Bundesrat Minger an der Sitzung der Landesverteidigungskommission vom 28. Januar 1939 auf die Möglichkeit eines Krieges im Frühjahr hinwies, bemerkte Korpskommandant Guisan: ‘Es scheint, dass in ganz Europa eine erhöhte Aktivität der Juden eingesetzt hat’…. Anfangs 1941 erkundigte sich Guisan brieflich, ob tatsächlich ein aus Deutschland stammender eingebürgerter Jude und zwei andere Juden beim Armeefilmdienst mitarbeiteten. Weiter wollte er wissen, ob noch andere Israeliten oder eingebürgerte Ausländer dort engagiert seien. Sollte dies zutreffen, sei ihm mitzuteilen, wie man deren Mitarbeit begründe…
Darüber hinaus war General Guisan als Chefkommandant der Armee härter, restriktiver in diesen Fragen als der Chef der Polizeiabteilung…In seinem Bericht an die Bundesversammlung über den Aktivdienst 1939-1945 aus dem Jahre 1946 schob Guisan Nichtwissen vor. Der Historiker Jean-Rudolf von Salis schrieb darüber 1978 in seinem Lebensbericht: ‘Unbegreiflich ist der nächste Absatz in Guisans Schlussbericht. Er zeigt, dass er seine Augen vor den Realitäten des Hitler-Regimes verschloss. Unser militärisch-politischer Machtapparat, der auf Grund des Notrechts über weitgehende Vollmachten verfügte, wollte von Naziverbrechen nicht reden hören.’» 29)
Hinweise:
1) https://freimaurer-wiki.de/index.php/75_Jahre_Fonjallaz-Initiative
2) https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerische_Faschistische_Bewegung
3) Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die antidemokratische Tätigkeit von Schweizern und Ausländern im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen 1939 —1945. Erster Teil, S. 60-61, 28. Dezember 1945.
5) https://heimatforschung.mianba.de/frameartikel_geh.html
7) https://www.eda.admin.ch/dam/parl-vor/2nd-world-war/1970-1989/film-die-rote-pest.pdf
8) https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003938/2009-06-23/
11 https://de.wikipedia.org/wiki/Man%C3%B6ver_H
12 http://www.mingerruedi.ch/politik_militaer.php
14) https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_von_Steiger
17) Edgar Bonjour, Geschichte der Schweizerischen Neutralität, Band VI, S. 214.
19) https://www.nzz.ch/schweiz/der-zeitpunkt-der-inneren-wiedergeburt-1.18566656
22) Edgar Bonjour, Geschichte der Schweizerischen Neutralität, Band VI, S. 223.
23) https://dodis.ch/P4088 https://dodis.ch/19037
24) https://hamfu.ch/upload/Die-Fk-Kp-7-im-II-Weltkrieg.pdf, Seite 18
25) https://www.swissinfo.ch/ger/vor-80-jahren--general-guisans-ruetli-rapport/45922328
26) https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024434/2017-05-10/
27) Bundesrat Karl Kobelt, 1891-1968, Eine Gedenkschrift, von Paul Müller, Verlag Paul Haupt, Bern 1975, Seite 120
28) https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=smh-002:1990:70::1257
29) https://www.gsoa.ch/newspaper/das-volle-boot/
© Paul Ignaz Vogel
(30.12.2020, 01.07.2024)