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Frankreich im Widerstand gegen die Nazi-Besatzung

Die deutsche Wehrmacht besetzte im Juni 1940 den nördlichen Teil Frankreichs. Im Süden etablierte sich ein faschistisches Vasallenregime unter Marschall Pétain. Den Willen zur erfolgreichen Résistance organisierte De Gaulle von London aus. Doch es gab auch viele KollaborateurInnen, die französische Beteiligung an den Menschheitsverbrechen war gross; vom Pariser Vorort Drancy aus fuhren die Züge in die deutschen Vernichtungslager. Und die offizielle Schweiz führte indessen ihre Flüchtlingspolitik «gegen die Verjudung» mit Kontaktgesprächen zur SS und Gestapo durch. (Teil 6)

Von Paul Ignaz Vogel

Zitat: 

«Frau Marschall war die einzige im SS- 

Personal, welche meinen richtigen 

Namen kannte. Sie sprach sehr gut 

französisch und hatte ihre Pflegeaus- 

bildung in der Schweiz erhalten.» 

 

Geneviève De Gaulle, 

Nichte von General De Gaulle über 

ihre Zeit im Frauen-KZ Ravensbrück 

 

Was undenkbar schien, trat plötzlich ein: Die deutsche Wehrmacht und die Sowjetarmee führten am 22. September 1939 in Brest-Litowsk an der polnisch-weissrussischen Grenze eine Siegesparade durch. Den unmittelbaren Anstoss hatte Adolf Hitler mit seinem Überfall auf Westpolen am 1. September 1939 gegeben und damit den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Gemäss dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalinpaktes vom 23. August 1939 fiel Stalin mit seinen Sowjettruppen etwas später in Ostpolen ein. 112) 

 

Mit der Gestapo im schweizerischen Le Locle 

 

Bedeutungsvoll konnte dieser Allianzwechsel für Kriegsgewinnler werden. Der in Basel ansässige Schweizerische Bankverein nutzte die Gunst der Stunde und organisierte auf schweizerischem Territorium einen lukrativen Deal mit der Umschmelzung von Goldbarren sowohl mit deutscher und als auch mit russischer Herkunftsbezeichnung. Es ist sehr wohl anzunehmen, dass es sich bei diesem plötzlichen Deal um Raubgold handelte, das aus dem Hitler-Stalin-Feldzug gegen das unabhängige Polen stammte. 

 

Das «Deuxième Bureau», der Geheimdienst der Dritten Republik in Frankreich, hatte von diesem beängstigenden Vorgang auf schweizerischem Territorium Kenntnis erhalten. Nur zehn Tage vor dem Einfall der deutschen Wehrmacht in Frankreich übermittelte der Finanzminister in Paris dem schweizerischen Gesandten Stucki eine Information, die am 2. Mai 1940 an die Zentrale in Bern wie folgt rapportiert wurde: «Die Sache soll so vor sich gehen, dass russisches und deutsches Gold in der Nacht in plombierten, von Agenten der Gestapo bewachten Wagen, in die Schweiz eingeführt und nach Le Locle transportiert wird. Dort werde es raffiniert und mit dem schweizerischen Stempel versehen Hierauf werde es auf italienischen Schiffen nach den U.S.A. verbracht.» 113) 

 

Nur kurz später, nachdem Bern dieser geheime Deal auf Schweizerboden vom französischen Geheimdienst rapportiert worden war, begann am 10. Mai 1940 der Blitzkrieg. Damit unterwarf Hitlerdeutschland bis zum 22. Juni 1940 das demokratisch regierte Frankreich und besetzte vorerst nur die Nordzone militärisch. Ein faschistisches und Juden verfolgendes Regime etablierte sich sodann in der Südzone im Badeort Vichy - unter Marschall Pétain. Ein Protektorat von Hitlers Gnaden. 

 

Widerstand unter De Gaulle 

 

General Charles De Gaulle, Staatssekretär in der abgesetzten demokratischen Regierung der Dritten Republik flüchtete von Paris nach London und organisierte dort den militärischen Widerstand, die Résistance. In einer Radioansprache vom 18. Juni 1940 rief er seine Landsleute zum Kampf auf. Das sorgte in der Zentrale der schweizerischen Diplomatie neuerdings für erhebliches Kopfzerbrechen. Denn De Gaulles Londoner Nationalkomitee für die Befreiung Frankreichs vom Nazijoch war bereits von der UdSSR diplomatisch als rechtmässige Regierung anerkannt worden. 

 

Bern kabelte am 17. Oktober 1941an die Schweizer Botschaft in London: «Es versteht sich von selbst, dass der Bundesrat keine offiziellen Beziehungen zum "Französischen Nationalkomitee" aufnehmen kann. Unsere geografische Lage, die Beziehungen aller Art, die uns mit dem französischen Festland verbinden, bestimmen so offensichtlich unser Verhalten, dass es überflüssig wäre, Überlegungen anzustellen, die Sie zweifellos ebenso gut verstehen wie wir.» Hingegen wurde empfohlen, dass in den von De Gaulle kontrollierten Gebieten schweizerische BehördenvertreterInnen mit den Organen des «Comité national français» zusammenarbeiteten.114) 

 

Mit mörderischer Spitzfindigkeit ordnete die Schweiz unter anderem die Grenzübertritte zwischen ihrem Gebiet, dem von der deutschen Wehrmacht ganz besetzten Teil Frankreichs und von Vichy-Frankreich. Ein Erlass der Eidgenössischen Fremdenpolizei vom 13. August 1942 galt auch für rassisch Verfolgte, das heisst für jüdische Flüchtlinge und schloss diese generell von ihrem Territorium aus. Diese Weisungen waren vertraulich. Sie kosteten Tausenden von Juden und Jüdinnen, durch die Abweisung an der Grenze zur Schweiz, das Leben. Es hiess: «Flüchtlinge, nur aus Rassegründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge.» 

 

Unterzeichnet hatte diese rassistische Verfügung Heinrich Rothmund, Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD. Der Befehl richtete sich an die Grenzübergangsstellen (Grenzwacht und Zoll, dem Eidgenössischen Finanzdepartement unterstellt), an die Polizeikommandos der Kantone und an die Abteilung für Nachrichten- und Sicherheitsdienst des Armeekommandos (dem Generalstab unterstellt). Deserteure und alle unbewaffneten Militärpersonen, auch politische Flüchtlinge konnten in die Schweiz grundsätzlich einreisen, hingegen bestanden die erwähnten streng antisemitischen Regeln. 

 

Einen Sonderstatus gewährte Rothmund im Grenzregime dem faschistischen Pétain-Frankreich. Franzosen, auch Elsässer, die aus dem vollkommen besetzten Frankreich via Schweiz in den noch militärisch unbesetzten Teil ihres Landes reisen wollten, wurden durchgelassen. Wer hingegen aus dem unbesetzten Frankreich unbefugterweise in die Schweiz flüchtete, geriet in Haft der Genfer Polizei, und diese schaffte dann die Personen aus. Rothmund ordnete den Weg über die «Genfer Polizei, die gemäss einer Abmachung mit der französischen Polizei vorgeht» an. Worin diese Abmachungen bestanden, erläuterte Rothmund nicht. Sicher führte dieser Weg für Naziverfolgte in den direkten Abgrund, via Polizei des faschistischen Pétain-Regimes – hinein in den Menschen verzehrenden Schlund der NS-Mordmaschine. 115) 

 

Judenverfolgungen in Frankreich … 

 

Auf Seiten der Naziokkupanten Frankreichs war bereits entsprechend gehandelt worden. Einen Monat nach der militärischen Besetzung der sogenannten Südzone, nach dem 11. November 1942, wurde am 11. Dezember die Kennzeichnungspflicht für Ausweise und Lebensmittelkarten der Juden und Jüdinnen eingeführt. Und Adolf Eichmann beantragte in einem Schreiben an das Auswärtige Amt in Berlin wegen Devisenknappheit des Dritten Reiches die Loskaufsumme und die Ausreisegenehmigung für Verfolgte des Naziregimes auf 100'000 Schweizerfranken festzusetzen. Wohlweislich in der harten Währung des Schweizerfrankens. 

 

Schauen wir in die Chronologie des Holocaust. Mindestens 76.100 aus Frankreich stammende Jüdinnen und Juden fielen dem NS-Völkermord zum Opfer. Sammelort für die Deportationen in die Vernichtungslager der Nazis war Drancy im Nordosten von Paris. 

 

Die Judenverfolgungen in den von den Nazis besetzten Gebieten, somit auch in Frankreich, waren im Jahre 1942 immer entsetzlicher geworden. Hannah Einhaus schrieb in ihrer Biographie zu Georges Brunschvig, dem damaligen Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Bern, über den Wissenstand in den Eidgenössischen Amtsstuben: «Die zuständigen Departemente der Bundesverwaltung waren im Frühling 1942 über ihre Diplomaten in Osteueropa über die Deportation und die systematische Ermordung von Juden informiert. Brunschvig selbst verfügte seit August 1942 über erste Informationen, und JUNA-Leiter Benjamin Sagalowitz konnte damals WJC-Leiter Gerhart Riegner in Genf überzeugen, seine Vorgesetzten in den USA zu informieren.» 

 

Gerhart Riegner, Büroleiter des Jüdischen Weltkongresses in Genf, alarmierte am 8. August 1942 in einem Telegramm die Alliierten über den Holocaust: "Erhielt alarmierenden Bericht in Führerhauptquartier werde Plan diskutiert und erwogen in deutsch besetzten und kontrollierten Ländern alle Juden Anzahl dreieinhalb bis vier Millionen nach Deportation und Zusammenfassung im Osten mit einem Schlag auszurotten und damit die jüdische Frage ein für allemal zu lösen stop Aktion geplant für Herbst Methoden einschließlich Blausäure in Diskussion stop." Das sogenannte Riegner-Telegramm blieb jedoch ungelesen. 116) 

 

Gegen Ende des Jahres 1942 lief bereits die Mordmaschinerie auf der Achse Drancy-Auschwitz auf Hochtouren. Laufend fuhren SNCF-Güterzüge künftige Opfer aus Frankreich nach Auschwitz. Am 5. und 7.November 1942 wurden bei Razzien im Departement Seine und in der Provinz 1.060 aus Griechenland stammende Juden sowie 1.745 andere jüdische Menschen festgenommen. Ein Deportationszug aus Frankreich mit 1.000 Menschen traf am 6. November in Auschwitz ein. 269 Männer und 92 Frauen blieben vorerst als Häftlinge am Leben, 639 Menschen kamen in den Gaskammern um. Zwei Tage später erreichten ca. 1.000 Juden aus Drancy Auschwitz. Nach der Selektion blieben 145 Männer und 82 Frauen im Lager, 773 Menschen starben in den Gaskammern. Nach drei Tagen traf aus dem französischen Lager Drancy ein Transport mit 1.000 Juden, darunter 750 - 800 griechischer Herkunft, in Auschwitz ein. Etwa 150 arbeitsfähige Männer wurden schon während der Fahrt ausgesondert. In Auschwitz registrierte die SS nur 100 Frauen als Häftlinge, während die anderen etwa 750 Menschen umgehend in den Gaskammern den Tod fanden. Am 13. November setzte sich die Mordkadenz fort: Aus dem Lager Drancy wurden 745 jüdische Menschen nach Auschwitz eingeliefert, darunter der Rest der am 5. und 7. November in Frankreich festgenommenen griechischen Juden; 599 Menschen aus diesem Zug mussten umgehend den Weg in die Gaskammern antreten. 117) 

 

… während EJPD-Rothmund SS und Gestapo in Berlin traf 

 

Und was tat indessen die Schweiz? Fast simultan zu diesen Mordphasen führte vom 12. Oktober bis 6. November 1942 Heinrich Rothmund, Chef der Flüchtlingsabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD per Flugzeug eine Studienreise zur SS, zur Gestapo und anderen Polizeiabteilungen in Berlin durch. Selbstverständlich geschah dies im Auftrage des Dienstherren, von Bundesrat von Steiger. Unter anderem traf Rothmund in der Reichshauptstadt auch den SS-General Walter Schellenberg, Compagnon von General Guisan und Zögling von Heinrich Himmler. Schellenberg hatte Rothmund sogar zu einem Jagdausflug eingeladen, ist zu lesen. Zu dieser Kontakt- und Studienreise ins Reich der Menschheitsverbrecher war es durch Vermittlung des schweizerischen Nachrichtendienst-Chefs Roger Masson gekommen. SS-General Schellenberg hatte in Berlin auf Bitten Massons am 27. August 1942 endlich grünes Licht für die Erteilung einer Einreisegenehmigung gegeben. Dieses Verfahren sollte gegenüber dem deutschen Gesandten Köcher in Bern verborgen bleiben. Ein direkter Draht zu den Mördern schien mehr Erfolg versprechend zu sein - die schweizerische Eidgenossenschaft in direkter Kollaboration mit SS und Gestapo. 118) 

 

Im Hotel Kaiserhof in Berlin entwickelte sich sodann während dem Arbeits- und Studienbesuch von Heinrich Rothmund (EJPD) bei einem Mittagessen in Anwesenheit des Schweizer Gesandten in Berlin, Minister Frölicher, ein Frage- und Antwortspiel über jüdische Flüchtlinge in der Schweiz. Gemäss Aktennotiz (Ende Januar 1943 von Rothmund erstellt) sagte SS-General Heinrich Müller: «Geben Sie doch die Leute uns.» Rothmund: «Was wollen Sie machen mit ihnen?». Müller: «Das bleibt dahingestellt.» Rothmund: «So». 

 

Bei einem Mittagessen im KZ Oranienburg-Sachsenhausen belehrte Rothmund dann die Deutschen über den «richtigen Antisemitismus», wie die Schweiz ihn handhabte: «Ich versuchte, den Herren klarzumachen, dass Volk und Behörden in der Schweiz die Gefahr der Verjudung von jeher deutlich erkannt und sich stets so dagegen gewehrt haben, dass die Nachteile der jüdischen Bevölkerung durch die Vorteile wettgemacht wurden, während das in Deutschland nicht der Fall war.» Und Rothmund wurde noch deutlicher: «Die jüdische Rasse ist geschichtlich erprobt, zäh und stark gegenüber Verfolgungen. Sie hat bisher allen Ausrottungsversuchen standgehalten und ist immer wieder gestärkt daraus hervorgegangen. Aus diesen Überlegungen scheine mir, so schloss ich meine Ausführungen, die heutige deutsche Methode falsch zu sein und gefährlich für uns alle, weil sie uns letztendlich die Juden auf den Hals jage.» 

 

In der gleichen Aktennotiz vom Ende Januar 1943 hielt Rothmund fest: «In einem anderen Gespräch - ich glaube, es war mit dem Berliner Polizeipräsidenten Graf Helldorf – wurde mir entgegengehalten, Deutschland könne keinen anderen Weg mehr gehen als den schon beschrittenen; also ein Eingeständnis, dass dieser Weg falsch ist. Anderswo wurde die Bemerkung fallen gelassen, es werde nicht mehr lange gehen mit diesem Vorgehen gegen die Juden in Deutschland. Hoffen wir das Beste.» 

 

Rothmund wurde somit von der SS nicht in den laufenden Holocaust eingeweiht und blieb von einer angeblichen Gutwilligkeit der Nazis getäuscht. Wirklich getäuscht?  Rothmund konfrontierte sich auf Dienstreise - immer im Einklang mit seinem Chef Bundesrat von Steiger - hautnah mit Mitwissern und Haupt-Tätern, und so stellt sich die Frage, ob Rothmund schon damals nicht alles von der laufenden Menschheitsverbrechen wusste. Offenbar bedrückte ihn die Last einer Mitschuld, denn aus Krankheitsgründen konnte Rothmund erst im Januar 1943 das Treffen mit den SS-Mördern protokollieren. Sein nationalsozialistischer Konterpart in Berlin - SS-General Müller - war immerhin der Mann, der 1939 den angeblichen Überfall polnischer Soldaten auf den Rundfunksender Gleiwitz inszeniert hatte, was Hitler den Vorwand zum Überfall auf Polen lieferte. Und: Müller war der Vorgesetzte von Adolf Eichmann. 119) 

 

Schweizer Bundesrat weist flüchtende Jüdinnen und Juden ab 

 

Kurz nach Rothmunds Hofieren bei den Holocaust-Mördern in Berlin kam es zur „Interalliierten Erklärung zur Vernichtung der Juden“, der sich Belgien, Großbritannien, die Niederlande, Griechenland, Luxemburg, Norwegen, Polen, USA, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Jugoslawien und Frankreich angeschlossen hatten. In London sass auch De Gaulle mit seiner Exilregierung, und die Hauptstadt des British Empire (mitsamt Kolonien) war das wichtigste Widerstandszentrum in Westeuropa gegen Nazideutschland. Der damalige britische Außenminister Anthony Eden gab diese «Interalliierte Erklärung zur Vernichtung der Juden» am 17. Dezember 1942 im britischen Unterhaus bekannt. Am selben Tag wurde sie vom US-Außenministerium der Presse übergeben. Die Fakten lagen somit auf dem Tisch der Regierungen in aller Welt. Die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad zeichnete sich ab. Und der Holocaust intensivierte sich fortlaufend: Der «Krieg» der deutschen Menschheitsverbrecher gegen «den inneren Feind» - bis zum eigenen Untergang nahm immer rascher Fahrt auf.120) 

 

Doch was geschah dieweilen in Bundesbern? Der Gesamt-Bundesrat befand auf Antrag des EJPD in seiner Sitzung vom 29. Dezember 1942 über «Illegal eingereiste Ausländer». Es war die exakte und direkte Fortschreibung der vertraulichen Weisungen von Rothmund vom 13. August 1942 in gleicher Sache. Der Beschluss hielt unter anderem nochmals den antisemitischen Grundsatz fest: «Flüchtlinge nur aus Gründen der Rasseverfolgung sind nicht als politische Flüchtlinge im Sinne dieser Weisungen zu betrachten.». In einer geheimen Operation – ohne jede Öffentlichkeit – schob die Schweiz weiterhin Personen, die nach einem unerlaubten Grenzübertritt in die Sperrzone der Schweizer Armee gelangt waren, ins sichere Verderben ab. 121) 

 

Mörderische Naziverbindung über die Suisse romande 

 

Schauen wir uns den schweizerischen Antisemiten-Grundsatz etwas näher an, den der EJPD-Chefbeamte Rothmund vor den SS und der Gestapo im KZ Oranienburg-Sachsenhausen gepredigt hatte. Nämlich «dass Volk und Behörden in der Schweiz die Gefahr der Verjudung von jeher deutlich erkannt und sich stets so dagegen gewehrt haben.». 

 

So geschah es auch im Frühjahr 1942 im waadtländischen Payerne. Was in der damaligen Öffentlichkeit vorerst als Raubmord erschien, war eine von Schweizer Nationalsozialisten der Welschschweiz inszenierte antisemitische Schandtat. Das Dritte Reich und seiner diplomatischen Vertretung in der Schweiz steckten dahinter und deckten die Täterschaft ab. 

 

Das Waadtland war der Heimatkanton von vier wichtigen eidgenössischen Playern im Zweiten Weltkrieg. Erstens von General Guisan, einem glühenden Verehrer von Marschall Pétain. Dessen Politik war für Guisan noch im Jahr 1941 «un spectacle réconfortant et un exemple édifiant», zu deutsch: «eine herzerwärmende Leistung und ein inspirierendes Beispiel». Dann war ebenfalls der anpasserische Bundesrat Pilet-Golaz, der Aussenminister, ein Waadtländer. Auch der damalige militärische Nachrichtenchef, Oberstbrigadier Roger Masson stammte aus dem Waadtland, und der Chef der Gegenspionage, Oberst Robert Jaquillard, ehemaliger ziviler Kantonspolizeichef vervollständigte das illustre Waadtländer Quartett mit viel Männerintrigen. 

 

Es gab in der Waadt stets mutierende Vereine der nationalsozialistischen Bewegung. Auch die schon 1926 gegründete Ligue vaudoise (Ordre et tradition) sympathisierte mit Reich und Führer, so wie im benachbarten besetzten Frankreich die Pétainisten, nun an der zerstörerischen Macht es taten.122) 

 

Hans Stutz beschrieb in seinem Buch «Der Judenmord von Payerne», wozu die von Rothmund erwähnte selbstverständliche eidgenössische Judenfeindschaft führen konnte. In Payerne, im waadtländischen «plateau suisse» (Mittelland) gelegen, lebte es sich kleinbürgerlich still, aber die nationalsozialistischen Prinzipien von Blut und Boden waren der heimattreuen Bevölkerung nicht sehr fremd. Zumal sie auch von einem protestantischen Landpfarrer geteilt wurden. Sein Name war Philippe Lugrin, Nach dessen Ausscheiden aus dem Amt betätigte er sich als Privatlehrer und antisemitischer Agitator. Am Karfreitag 1941 schmierten sogenannt Unbekannte an die Synagoge im waadtländischen Vevey am Genfersee: «Sein Blut komme über uns!». Da die Kantonspolizei Ermittlungen aufnahm und auch Hausdurchsuchungen bei einem Fröntler-Unternehmer vornahm, wandten sich dieser und Pilippe Lugrin protestierend an die Bundesräte Pilet-Golaz und von Steiger. Mit Briefkopie an den deutschen Gesandten Otto Carl Köcher in Bern. Es folgte ein diplomatisches Intermezzo. Die hohe Protektion, die Lugrin vom Deutschen Reich erhielt, zeigte auch die Episode seiner vorübergehenden Verhaftung um Weihnachten 1941. Köcher intervenierte bei Bundesrat Pilet-Golaz, und darauf kam Lugrin umgehend frei. Er war somit als Agent Berlins enttarnt. Und Pilet-Golaz? 

 

Nachdem Lugrin seine Frontisten im kleinen Saal eines Gasthofes von Villarzel auf den deutschen Führer vereidigt hatte, erfolgte bald die Umsetzung der von ihm angestifteten Tat. Am 16. April 1942 fand in Payerne ein Viehmarkt statt. Treue Anhänger Lugrins lockten den jüdischen Viehhändler Arthur Bloch aus Bern in einen Stall und ermordeten ihn dort bestialisch. Leichenteile warfen die Täter in den nahen Neuenburgersee. Der Anstifter der Tat floh mit Hilfe des deutschen Konsulates über die grüne Grenze ins faschistische Vichy-Frankreich. Im von der deutschen Wehrmacht besetzten Paris fand Lugrin vorübergehend einen Broterwerb bei einer Zeitung, siedelte dann ins Deutsche Reich nach Frankfurt am Main über und arbeitete für den «Welt-Dienst, Zeitschrift für die Judenfrage». Diesen redigierte Ulrich Fleischhauer, der auch am Berner Prozess gegen die «Protokoll der Weisen von Zion» von der Naziseite als sogenannter «Gutachter» zugezogen worden war. 1947 verurteilte ein Schweizer Gericht Lugrin wegen Anstiftung zum Mord. Die Mörder selbst hatten schon ein Jahr nach der Tat ihre Gerechtigkeit gefunden und sassen dafür in der Strafanstalt. Der Kreis schloss sich damit. Damit wäre über die abscheulichen Verbrecher geschrieben. 123) 

 

Jüdische Kreise im Widerstand 

 

Wenden wir uns dem Schicksal der Opfer dieses mörderischen Antisemitismus zu. Dabei stellt sich die Frage nach dem Widerstand, der Widerstandskraft. Wo und wie gab es im besetzten Frankreich jüdischen Widerstand gegen das drohende Schicksal und gegen die nationalsozialistische Täterschaft? Yad Vashem, die internationale Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, stellt auf ihrer Website fest: «Auch in Zentral- und Westeuropa schlossen sich Juden bewaffneten Untergrundorganisationen an. In Belgien und Frankreich waren sie im Untergrund und in Einheiten der Résistance aktiv.» 

 

Ein hervorragendes Beispiel gaben der Ingenieur Abraham Polonski, seine Frau und der aus Russland stammende Dichter David Knout und dessen Frau. Sie gründeten im besetzten Frankreich ab August 1941 die «Main Forte» (Starke Hand), eine zionistische Gruppe für die Schaffung eines zionistischen Staates. Die Bewegung richtet sich an junge Menschen aus dem Milieu der Pfadfinder. Unmittelbares Ziel war es, den bewaffneten Kampf (Maquis) aufzubauen und Juden und Jüdinnen durch falsche Papiere, Verstecke und geheime Grenzübertritte nach Spanien zu retten. 

 

Am 10 Januar 1942 entstand so im französischen Untergrund die jüdische Résistance-Armee (Armée Juive, AJ). Kampfbereite Personen kamen aus Toulouse, Montpellier, Nice, Grenoble, Lyon et Limoges. Der Schwur beim Eintritt in die AJ lautete: « Mit meiner rechten Hand auf der blau-weißen Fahne schwöre ich der Jüdischen Armee Treue und Gehorsam gegenüber ihren Führern. Möge mein Volk wieder leben, möge der Staat Israel wiedergeboren werden: Freiheit oder Tod! (Übers.)» 

 

Konnte Widerstand überhaupt lebensrettend sein? Simone Jacob (später Veil) stammte aus einer laizistisch-aufgeklärten jüdischen Familie. Die Jungen gehörten zur Pfadfinderbewegung. Simone ging im Frühjahr 1944 ahnungslos als sechzehnjährige Gymnasiastin durch Nizza, wurde auf der Strasse von der deutschen Gestapo verhaftet und ins Sammellager Drancy transferiert. Von dort aus erfolgte die Deportation ins KZ Auschwitz-Birkenau. Bei der Ankunft fälschte sie auf Anraten eines französisch sprechenden Mit-Deportierten ihr Alter und gab an, schon 18 Jahre alt zu sein, was ihr kurzfristig das Leben rettete. Die Eltern von Simone und ihr Bruder kamen im Holocaust um, Simone überlebte einen Todesmarsch aus dem Lager Auschwitz. 

 

Ihre Schwester Denise Jacob (später Vernay) hatte den Weg der Résistance gewählt: Sie schloss sich dem Widerstand in Lyon an, mutierte dann zur Verbindungsagentin zwischen den verschiedenen Widerstandsgruppen und operierte von Annecy (Hochsavoyen, nahe beim schweizerischen Genf) aus. Am 19. Juni 1944 holte sie von den Aliierten über Zentralfrankreich abgeworfene Kriegsutensilien ab, nämlich zwei Sender, 8 Batterien, ungefähr 400'000 FFrs., militärische Kleidung und andere Gegenstände wie Zyankali, Tarnbrillen etc. Auf der Fahrt nach Annecy stoppte und verhaftete sie die Gestapo. In Lyon fiel sie in die Hände von Klaus Barbie. Nach Folter folgte die Überstellung ins Frauen-KZ Ravensbrück. Gegen Kriegsende verschob die SS rund 2'000 Frauen ins KZ Mauthausen, um diese dort zu ermorden. Am 21. April 1945 tauchte eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes auf, die SS gaben ihre Gefangenen frei. In weiss gestrichenen Camions gelangten diese nach St. Gallen in der Schweiz. Via Genf und Annemasse erreichte Denise die französische Stadt Annecy - zum gleichen Zeitpunkt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war. 

 

Joseph Weill, ein im Elsass geborener jüdischer Arzt, betreute während dem Zweiten Weltkrieg deportierte Jüdinnen und Juden in den französischen Lagern Gurs und Riversaltes. Er arbeitete für die OSE (Oeuvre de secours aux enfants et de protection de la santé des population juives), betreute und rettete jüdische Waisenkinder. 1943 flüchtete er mit der Familie in die Schweiz. Bis zum Kriegsende war er in Genf weiterhin für die OSE tätig. Genf war zu einem Zentrum der französischen Résistance geworden, und dort befand sich auch eine Vertretung des Jüdischen Weltkongresses. Von wo aus Mitte 1942 bereits die Westaliierten, die USA und Grossbritannien über den laufenden Holocaust alarmiert worden waren.124) 

 

Familie De Gaulle im Kampf gegen Hitler 

 

Charles de Gaulle hatte von London aus den national-französischen Widerstand (Résistance) gegen die Nazi-Okkupation Frankreichs organisiert. Durch familiäre Bande bestand auch ein insgeheimer Ableger in der Schweiz. In Nyon am Genfersee lebten vorübergehend die beiden aus Frankreich geflüchteten Brüder von General de Gaulle. Xavier, der älteste Bruder, war in der Résistance aktiv gewesen und konnte am 15. Mai 1943 in die Schweiz flüchten. Er fand unter einem Pseudonym Einlass, da er über genügend Geldmittel verfügte und liess fortan von Nyon aus seinem Bruder Charles in London informelle Informationen zukommen. 1944 ernannte ihn das befreite Frankreich zum Konsul in Genf. Und Xavier war der Vater von Genevieve de Gaulle, die ebenfalls in der Résistance kämpfte.  

 

Als junge Studentin in Paris war Geneviève patriotisch gesinnt. Die schmähliche militärische Niederlage der französischen Armee und der sogenannte Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 empörte sie. Sie fand umgehend Kontakte zur Résistance. In Annecy (Hochsavoyen) erhielt sie von Getreuen in der Präfektur offizielle Stempel und Amtspapiere der gewesenen Dritten Republik. Damit reiste sie nach Paris zurück. 

 

An der Zonengrenze zwischen der «Zone libre» (Vichy) und dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Teil des französischen Territorialgebietes geriet sie in eine Kontrolle. Sie liess Stempel und Briefpapiere geistesgegenwärtig im Zug-Abteil zurück und hatte Glück. In Paris amtierte sie daraufhin als Redaktionsassistentin der Untergrundzeitung «Défense de la France». Diese Publikation erfreute sich einer zunehmenden Auflage: 1941 waren es 5000 Exemplare, 1944 schliesslich 450 000. Bei einem Geheimtreffen in einer Pariser Buchhandlung schnappte sie die Gestapo. Von Fresnes führte sie die Deportation ins Frauenlager Ravensbrück. Im Nähatelier musste sie Pelze für Offiziere bearbeiten und fand dabei auch in Säumen eingenäht Goldstücke und Diamanten. Das Material kam aus dem KZ Auschwitz. Dann versetzte man sie in die Schreibstube der Krankenabteilung. Zur SS-Chefin schrieb Geneviève: «Frau Marschall, die einzige im SS-Personal, welche meinen richtigen Namen kannte, sprach sehr gut französisch. Sie hatte die ganze Pflegeausbildung in der Schweiz erhalten.» 

 

Ende Oktober 1944 wurde Geneviève in Einzelhaft gesperrt. Sie sollte als Pfand für Himmlers Versuche zu einem Separatfrieden dienen. Die Gestapo brachte sie gegen Kriegsende nach Süden. Mithilfe des Rotes Kreuz erreichte sie über den Bodensee die Schweiz. Aus Winterthur versuchte sie, ihrem Vater Xavier zu telefonieren, der damals Konsul Frankreichs in Genf war. Nach Kriegsende in Paris wieder zu Hause, zeigte ihr Onkel Charles de Gaulle den Brief, den er von Himmler erhalten hatte. Und mit dem der Menschheitsverbrecher einen Gefangenenaustausch vorgeschlagen hatte. De Gaulle hatte nie auf den Brief geantwortet.  

 

Die Résistance, ein Krieg aus der Bevölkerung 

 

Aus der Not der Unterdrückung durch die Naziherrschaft war während des Zweiten Weltkrieges in Frankreich der militärische Widerstand entstanden. Er kam aus der Bevölkerung und diente derselben. Die Front stand somit für den Feind, die deutschen Besatzungstruppen, überall. Erstmals entwickelte sich spontan ein Stay-Behind-System, an dem die späteren ideologischen Gegner im Kalten Krieg, die OSS (später CIA) der USA und die straff organisierten stalinistischen Kommunistischen Parteien der westeuropäischen Länder gleichermassen interessiert waren. Die Kommunistischen Parteien konnten auch ihre militärischen Erfahrungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg einbringen. 

 

Für die Lage im damals besetzten Frankreich kam dazu, dass der Zweite Weltkrieg auch ein Krieg zwischen verfeindeten Kolonialmächten war. Man denke nur an den nordafrikanischen Feldzug Rommels gegen Ägypten (Suez), an Syrien, wo sich die Fremdenlegion Frankreichs etablierte – die vorerst Pétain treu war. Und an Palästina, das britische Mandatsgebiet. 

 

Die politische Landschaft in der Résistance Frankreichs offenbarte sich extrem zerstückelt. Eine pluralistische Gesellschaft war gegen die fremden Herren und ihr Blutregime angetreten. Entsprechend schwierig gestaltete sich demnach eine strategische Koordination. Sie gelang schliesslich General De Gaulle, der von London und Alger aus die Fäden zog. Und damit eine konservativ-bürgerliche, streng patriotische Gesinnung zum Tragen brachte. 

 

Die Résistance erhielt stets militärischen Nachschub der West-Alliierten aus der Luft.  Während des ganzen Krieges kam es zu 8651 Fallschirm-Abwürfen mit 8545 Tonnen Waffen und eingeschleusten Personen. Grosse Widerstandsnester entstanden auf dem Plateau de Glières bei Annecy (Hochsavoyen), im Massif du Vercors und in der Gegend der Ain. Aber auf dem ganzen Territorium Frankreichs blieben die Widerständler bis zuletzt aktiv. 

 

De Gaulles treue rechte Hand im Militärischen war Pierre Koenig. Dieser hatte sich nach dem Zusammenbruch 1940 an die Seite der Französischen Republik gestellt, die von London aus operierte. In der Folge absolvierte Koenig Einsätze in Palästina, gegen Rommels deutsche Wehrmacht in Nordafrika und in Alger. De Gaulle beförderte Koenig 1944 und dieser kommandierte fortan die Force Français Libre in London und die Forces Françaises de l’intérieur (FFI) der bewaffneten Résistance in Frankreich. Er begleitete und deckte eng das Vorrücken der US-Army seit dem D-Day des 6. Juni 1944 ab. Es folgte die Befreiung von Paris.1945 verhaftete er bei Pontarlier Marschall Pétain beim Grenz-Übertritt aus der Schweiz ins befreite Frankreich. Pétain erhielt wegen seinem Verrat und der Kollaboration mit den Nazi-Okkupanten von einem Geschworenengericht in Paris die Todesstrafe. De Gaulle begnadigte ihn zu lebenslanger Haft. 

 

Koenig wandte sich im nach 1945. im aufkommenden Kalten Krieg, gegen eine zu starke Allianz von Frankreich mit Deutschland, befreundete sich mit den Interessen Israels und opponierte unter Anderem 1969/1970 in einer Frankreich-Israel-Allianz gegen die französischen Rüstungshilfen an arabische Staaten. De Gaulle indessen fand sich nach 1945 auf einer Achse mit dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Ein Rassist wie zum Beispiel Globke (NS-Rassengesetze) und ein Wehrmacht-Geheimdienstmann Reinhard Gehlen kamen in der Bundesrepublik zu Rang und Würden. Ein weiteres Beispiel: Der deutsche Nazi-Raketenmann Wernher von Braun /Peenemünde führte die USA in den Weltraum.125) 

 

Ehrenhafte AuslandschweizerInnen 

 

Doch kehren wir zum Maquis, zur Résistance zurück. Im Buschwerk (= maquis) mussten sich die Partisanen in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges oft verstecken. Auch ihre Wege führten oft durch die Buschwälder. Zur Résistance zählten einige AuslandschweizerInnen. Hier sei an sie erinnert, um auch den bescheidenen schweizerischen Anteil am Befreiungskampf gegen die Naziherrschaft zu würdigen. 

 

Seit der Kriegswende 1942 / 43 und dem Beginn der Alliierten Luftherrschaft, die den Abwurf von leichtem Kriegsmaterial gestattete, erlangten abgelegene Höfe in der Nähe der Schweizer Grenze für den Widerstand an Wichtigkeit. 

 

Zwischen dem Weiler Montbouton in der Burgundersenke bei Belfort (Frankreich) und Boncourt am nördlichsten Teil der Ajoie (Schweiz) liegt in einer Waldichtung das Gehöft Champs-Houdin. Es wurde seit 1922 von Paul Egger aus dem Berner Jura zusammen mit seiner Frau, einer gebürtigen Französin bewirtschaftet. Im Betrieb halfen auch die beiden Söhne mit. Im Herbst 1942 trat Egger der dem französischen Widerstand, der Résistance bei. Wegen der idealen Lage wurde der Eggersche Bauernhof sehr rasch zu einem Zufluchtsort für Flüchtende und zum Umschlageplatz für Waffenschmuggel und Nachrichten für die Alliierten. Nach einem Verrat umstellte die deutsche Feldgendarmerie im April 1944 das Hofgut und verhaftete Egger und einen seiner Söhne. Der Schweizer Konsul in Besançon versuchte, sich für die beiden Doppelbürger einzusetzen. Vergebens. Paul Egger verschwand in deutschen KZs und starb dort an Arbeit und Unterernährung am 6. Dezember 1944. 126) 

 

Der in Genf geborene Schweizerbürger Frédéric Hess heiratete 1924 eine Französin und eröffnete mit ihr in Aix-les-Bains ein Lebensmittelgeschäfte. Nach der Kapitulation der französischen Armee anno 1940 traf sich dort der französische Untergrund. Bei Hess wurden Waffen, Sprengstoffe versteckt und Pläne für Überfälle und Fallschirmabwürfe der Alliierten geschmiedet. Im Juli 1944 verhaftete die deutsche Gestapo Hess und seien beiden Söhne. Er starb am 20. August 1944 im Massaker von Saint-Genis-Laval (120 Tote).127) 

 

Gabrielle Mayor hatte ihr Geld mit Putz- und Näharbeiten in Le Locle verdient. 1928 heiratete sie einen Käser und liess sich mit ihm auf französischem Boden im Hofgut «Les Orphelins» in der Nähe von Dôle nieder. Dieses entwickelte sich in den letzten Kriegsjahren zum Zentrum eines französischen Widerstandsnetzes gegen die Nazi-Okkupation. Der britische Geheimdienst mit seiner Spezialeinheit SOE (Special Operations Executive) half dabei, Nachrichten und Waffen zu horten, auszutauschen und zu verschieben. Der gesichtete Abwurf von 426 Waffencontainern enttarnte das Netz und führte zur Verhaftung von Gabrielle Mayor. Ihr Mann konnte fliehen. Gabrielle landete in deutschen KZs. Am 4.Februar entwich sie aus dem Frauen-KZ Ravensbrück, am 5. Februar traf sie an der Schweizer Grenze in Kreuzlingen ein, «zur gleichen Zeit, als ein Konvoi mit 1200 jüdischen KZ-Überlebenden die Grenze erreicht, deren Freilassung der ehemalige Bundesrat Jean-Marie Musy dank besten Beziehungen zum SS-Leiter und Reichsführer Heinrich Himmler erreicht hat.» 128)  

 

Wie man nach 1945 wegsah 

 

Wie es unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Naziregimes über Europa nach den ersten Maitagen 1945 weiterging, spricht Bände. 

 

Denise (Vernay, geborene Jacob), die Schwester von Simone Jacob (Veil) war mit Geneviève de Gaulle seit ihrem Aufenthalt in KZ Ravensbrück befreundet. Denise schlug Simone vor, den Monat August 1945 in Nyon (Schweiz) zu verbringen. Sie konnte so in einer Villa am Seeufer, welche durch Vermittlung von Geneviève De Gaulle den ehemaligen Deportierten zur Verfügung gestellt worden war, ihre Gesundheit wieder herstellen. Die Vorträge von Geneviève – auch in Frankreich - ermöglichten es, die laufenden Unkosten zu decken. Die SchweizerInnen begriffen allerdings noch weniger als die Franzosen, was den Deportierten zugestossen war. Darunter litt Simone Veil (geborene Jacob) als Auschwitz-Überlebende besonders. Die Stimmung war gedrückt. Auch im befreiten Frankreich: KollaborateurInnen, Mitwisser, Wegsehende zu Hauf. In der Schweiz sowieso. 

 

Simone Veil äusserte sich später als erste Präsidentin der Stiftung zum Gedenken an den Holocaust: Es wäre unerträglich gewesen, zu sprechen und nicht gehört zu werden: «Es ist unerträglich. Und das ist uns allen schon so oft passiert. Wenn wir anfangen zu reden, wenn wir etwas sagen wollen, wird es sofort unterbrochen. Der Satz, der uns im Reden abricht, der dann von etwas anderem handelt... Weil wir stören. Ja, wir stören zutiefst (Übers.)." 

 

Die Holocaust-Überlebende aus Auschwitz Simone Veil wurde nach 1945 französische Politikerin, Ministerin und Europapolitikerin. Sie starb 2017. Am 1. Juli 2018 fanden ihre sterblichen Überreste in der nationalen Ruhmeshalle Frankreichs, dem Panthéon in Paris, ihre letzte Ruhe. 129) 

 

Und die Schweiz? 

 

In Frankreich konnte sich - trotz grosser Widerstände und einem weit verbreiteten Nicht-Wissen-Wollen, wie Simone Veil dieses bitter beklagte – eine Erinnerungskultur aufbauen. 1976 bereits wurde in Drancy bei Paris, dem Sammelort für die Holocaust-Opfer, ein Denkmal errichtet. Ein Güterwagen symbolisiert die Deportation. Am 21. September 2012 eröffnete dort der damalige Staatspräsident Hollande die Gedenkstätte „Mémorial de la Shoah de Drancy“. 

 

In der Schweiz dauerte der Erkenntnisprozess länger. Am 25. Mai 2021 präsentierte eine Steuerungsgruppe ihr Projekt «Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus». Ihr gehörten an: Valérie Arato Salzer, Erich Bloch, Sabina Bossert, Hannah Einhaus, Remo Gysin, Ralph Lewin, Fabienne Meyer, Erik Petry, Gregor Spuhler, Herbert Winter. 

 

Mit dem Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus würden sehr wichtige Themen in die öffentliche Diskussion gelangen. Aufklärung wäre gefragt. Eine breite Erkenntnisförderung, insbesondere auch bei den Jugendlichen ("social-media-Generationen") sollte mehr die geschichtlichen Tatsachen bekannt machen. So unter anderen die Grenzschliessung im Herbst 1942, dann der Ludwig-Bericht und Alfred A. Häslers Buch «Das Boot ist voll». Auch Diskussionen der jüngeren Zeit über die Flüchtlingsstatistik und die Rolle der Schweizer Behörden bei der Kennzeichnung der Reisepässe deutscher «Nichtarier» mit dem «J»-Stempel gehörten dazu, ebenfalls der behördliche Antisemitismus und die lange Zeit fehlende Rehabilitierung und Anerkennung derjenigen, die sich – wie etwa Paul Grüninger, Elsbeth Kasser und viele andere – für Flüchtlinge und Vertriebene eingesetzt und dafür unter Umständen beträchtliche Nachteile in Kauf genommen hatten. Die Projektgruppe hielt fest: "Hier liegt es an der Schweiz, mit einem in die Zukunft weisenden Memorial ihre historische Verantwortung zu übernehmen – ohne dabei jedoch staatliche Geschichtsschreibung zu betreiben." 130)                                                                                                                                                                                                                                  

(Fortsetzung folgt)                                                                                                  

 

Hinweise: 

 

112) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/hitler-stalin-pakt-1939.html 

 

https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/190237/vor-80-jahren-hitler-stalin-pakt 

 

113) https://dodis.ch/47027 

 

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/zweiter-weltkrieg/kriegsverlauf/besatzungfr 

 

114) https://dodis.ch/47303 

 

115) https://dodis.ch/35326 

 

116) https://www.worldjewishcongress.org/en/news/70-years-ago-riegner-telegram-alerts-world-of-nazi-holocaust/ 

 

https://www.worldjewishcongress.org/en/about/history 

 

Hannah Einhaus, Für Recht und Würde, Georges Brunschvig, Chronos, Zürich, 2016, S. 105 ff./ S. 144 

 

117) http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1942/november.html 

 

http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1942/dezember.html 

 

http://www.juifs-en-resistance.memorialdelashoah.org/la-resistance-juive/les-mouvements/l-armee-juive.htm 

 

http://museedelaresistanceenligne.org/liste-expo.php 

 

https://www.gedenkorte-europa.eu/content/list/117/ 

 

118) https://dodis.ch/47520 

 

http://www.thata.net/thatabludok26.html 

 

Pierre-Th. Braunschweig, Geheimer Draht nach Berlin. Die Nachrichtenlinie Masson-Schellenberg und der schweizerische Nachrichtendienst im Zweiten Weltkrieg, Verlag NZZ, Zürich, 1989, Seiten 212, 224 

 

119) https://dodis.ch/11991 

 

http://www.thata.net/thatabludok26.html 

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_M%C3%BCller_(Gestapo) 

 

https://www.spiegel.de/politik/kein-nazi-a-71c488b6-0002-0001-0000-000046172357 

 

120) https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/659055 

 

121) https://dodis.ch/47473 

 

122) https://dodis.ch/47217 

 

Pierre-Th. Braunschweig, Geheimer Draht nach Berlin. Die Nachrichtenlinie Masson-Schellenberg und der schweizerische Nachrichtendienst im Zweiten Weltkrieg, Verlag NZZ, Zürich, 1989, u.a. S. 82 

 

123) Hans Stutz, Der Judenmord von Payerne, Rotpunktverlag, Zürich, 2000, insbesondere S. 129 ff./ S. 117 ff. 

 

https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015225/2006-08-28/ 

 

https://www.swissinfo.ch/ger/nazi-graeuel-und-die-schweiz_der-mord-an-einem-juden-im-gestern-und-heute/42361476 

 

124) https://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/combat-resistance/jewish-armed-resistance.html 

 

http://www.juifs-en-resistance.memorialdelashoah.org/la-resistance-juive/les-mouvements/l-armee-juive.htm 

 

Simone Veil, Une vie, Editions Feryane, Versailles, 2008 

 

https://www.fondationresistance.org/pages/rech_doc/?p=portraits&iIdPortrait=43 

 

https://www.afz.ethz.ch/bestaende/14f5865a890445e3a9d31ca6a2afadf5.pdf 

 

http://ge.ch/archives/media/site_archives/files/imce/pdf/refugies_1939-1945/table_ronde/12-van_dongen.pdf 

 

https://www.rts.ch/docs/histoire-vivante/a-lire/2257395 

 

html/BINARY/La%20Suisse,base%20arri%C3%A8re%20de%20la%20R%C3%A9sistance 

 

https://www.worldjewishcongress.org/en/about/history 

 

125) https://dodis.ch/47757 

 

https://dodis.ch/47532 

 

La vie et les actes de Charles de Gaulle: Mémoires de guerre – Document – Les compagnons / de Gaulle, en ce temps là, suite page 839,  Nos 44, 45, 46 47, mémoires personnelles, rédigées par Geneviève de Gaulle. 

 

https://www.hdg.de/lemo/biografie/pierre-koenig.html 

 

https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1973_1_3_lipgens.pdf 

 

La vie et les actes de Charles de Gaulle: Mémoires de guerre – Document – Les compagnons / de Gaulle, en ce temps là, pages 804, 806, 808, 811. 

 

126) Peter Huber: «In der Résistance. Schweizer Freiwillige auf der Seite Frankreichs (1940-1945)» Chronos Verlag, 2020, Zürich, S. 189 ff. 

 

127) daselbst, S. 108. http://web.archive.org/web/20141008160441/https://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/gedenkstaette-des-gefaengnisses-von-montluc 

 

128)  Peter Huber: «In der Résistance. Schweizer Freiwillige auf der Seite Frankreichs (1940-1945)» Chronos Verlag, 2020, Zürich, S, 219 ff. 

 

129) Simone Veil, Une vie, Edition Feryane, Versailles, 2008, p. 116 et suite 

 

https://www.lacote.ch/articles/regions/district-de-nyon/des-deportees-soignees-a-nyon-305424 

 

https://www.letemps.ch/monde/simone-veil-suisse-lombre-1945-nyon 

 

https://dodis.ch/P26428 

 

https://dodis.ch/R23391 

 

130) http://drancy.memorialdelashoah.org/ 

 

https://swissmemorial.ch/wp-content/uploads/2021/05/2021-05-25_Konzept_Schweizer-Memorial-NS-Opfer.pdf

 

© Paul Ignaz Vogel, 18.09./ 04.10. / 09. / 10.10. 2021 / 27.06.2024

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